Abgenabelt: Adieu Tagesaktualität.

Fokussierung auf das Wesentliche und das Nützliche

Zeit für einen weiteren Selbstversuch dank Rolf Dobelli

Über eine Freundin bin ich auf die Ausgabe des Schweizer Monats (984) vom März 2011 gestossen, in welcher der Schriftsteller Rolf Dobelli den News den Kampf ansagt. Vorweg: Am Ende meines Beitrags findet sich der Link auf das PDF zum damaligen Titelthema von Rolf Dobelli. Es geniesst meine uneingeschränkte Leseempfehlung.

In meiner schnelllebigen Branche brüsten sich viele Fachpersonen mit der Anzahl an Tweets, die sie versenden, oder ihrer eigenen Reaktionsfähigkeit, News – die heute dank Twitter & Co. praktisch gleichzeitig mit dem Ereignis zusammenfallen – mit nur wenigen Minuten Verzug sofort originell replizieren zu können.

Es dünkt mich jeweils, dass ich mit meinem Anspruch auf mehr Hintergrund und kausaler Herleitung ziemlich alleine dastehe, wenn mir dann die gleichen Personen erklären, dass 140 Zeichen immer genug seien, sich einzubringen – man müsse sich eben nur kurz fassen können.

Hier geht’s direkt zum Artikel von Rolf Dobelli:
Vergessen Sie die News! (PDF, 6.2MB)

In meinem Hintergrund-Beitrag zu dieser Website habe ich schon erklärt, was mich an 140 Zeichen stört. Und jetzt habe ich diesen Text gefunden und fühle mich erleichtert und endlich nicht mehr alleine. Es geht bei Dobelli zwar nicht um Messages aus den Social Networks, sondern um News. Doch wenn man genau hinschaut, dann sind wohl mehr als die Hälfte der besagten Messages Replizierungen von News und der grösste andere Teil klassische Artefakte der Human Interests, welche ihrerseits für das Leben des Lesers oder der Leserin auch keinerlei Mehrwert bieten.

Dobellis gedankliche Herleitung des tragischen Befunds rund um den Konsum von News lässt sich meiner Meinung nach eins zu eins auf einen Grossteil des Gezwitschers im Social Media-Universum anwenden. Vermutlich ist hier die Zerstörung von Zeit, Lebensqualität und Kreativität sogar noch grösser, weil wohl noch mehr Zeit dafür investiert wird.

Testen Sie sich: Können Sie heute noch einen längeren Text lesen und verstehen?

Verstehen Sie mich nun nicht falsch: Es geht mir neben Social Media auch um die News. Im Social Media-Bereich gibt es, im Gegensatz zum News-Bereich, jedoch auch gute Anwendungsbeispiele. Wenn Sie diesen Artikel über einen Social Media Input gefunden haben und sich nun so wie ich die Zeit nehmen, Dobellis gelungene Analyse zu lesen, dann ist das ein gutes Beispiel für die sinnvolle Anwendung von Social Media. Dabei verstehe ich die Social Media-Kanäle aber weniger als Inhaltsgefässe, als mehr eine Art Satelliten, mit denen gute Inhalte im besten Fall einem neuen und grösseren Publikum kommuniziert werden können. In meinen Feeds trifft dies aber auf weniger als geschätzte 1% der Meldungen zu.

Im Sinne einer Motivation, einen noch längeren Text als den vorliegenden Beitrag zu lesen, hier die Thesen aus Dobellis Artikel, der als Gegengift gegen News verstanden werden soll und Ihre Fähigkeiten auf die Probe stellt, auch heute noch nach Monaten oder Jahren hirnverändernden News-Konsums einen längeren Text lesen und verstehen zu können:

  • News führen zu einer falschen Risikokarte im Kopf
    Es sind die Human Interests, die unsere Nervensystem mit skandalösen und aufsehenerregenden Reizen unverhältnismässig reagieren lassen. Die aktive Ausnutzung der menschlichen Biologie führt dann zu einer falschen Gewichtung von Begebenheiten, wie beispielsweise dass Astronauten wichtiger als Kindergärtnerinnen sein sollen (ja, im Text sind es Krankenschwestern, in meinem Leben aktuell die Kindergärtnerinnen).
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    Im Social Media-Bereich ist dies vergleichbar: Man könnte versucht sein anzunehmen, dass viel-Twitterer mehr Relevantes zu sagen hätten als andere. Natürlich ist das absurd.
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  • News sind irrelevant
    Dieses sehr spannende Kapitel stellt die Frage der Relevanz, die mit Aktualität nichts zu tun hat. Anhand wunderschöner Beispiele führt Dobelli aus, dass in der Geschichte die Ereignisse, welche die Welt komplett verändert hatten, nie von News-Journalisten als solche erkannt und verwertet wurden. Mein Lieblingsbeispiel ist die Erfindung des Browsers 1993, Mosaic, das zu dem Zeitpunkt keine Schlagzeile wert zu sein schien.
    Kommt gut recherchiert dazu, dass wir mindestens 10 Minuten brauchen, um einen Gedanken richtig verstehen und lernen zu können. Alles andere bringt unserem Wissen nichts.
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    Im Social Media-Bereich stelle ich fest, dass vielfach News wiederholt werden, ohne dass den Tatsachen und Begebenheiten relevanter Mehrwert zugeführt wurde. Meistens sind die Kommentare auf Stammtisch-Niveau, so dass die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema durch kognitive Leistung a priori abgewürgt und das Thema in seichte Gefilde geführt wird.
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  • News schränken das Verständnis ein
    Das Erarbeiten von fundierten Kausalzusammenhängen ist harte Arbeit und braucht Zeit. News widersprechen dem schon in der Bezeichnung. News tragen daher nichts zum Verstehen der Begebenheiten auf der Welt bei, erklären keine Zusammenhänge und sind blosses Aneinanderreihen von Tatsachen – durch mehrfaches Kopieren meist noch fahrlässig verfälscht.
    Das schreibt Dobelli nicht explizit, doch mit dem Aufkommen der Gratis-Zeitungen wurde der vor 200 Jahren erfundene News-Journalismus noch schlimmer: Die Blätter zeigen so ohne Scham ihre Finanzierungskonzepte. Werbungen bedingen Aufmerksamkeit um jeden Preis. Skandale, People-Geschichte und Fotos von Prinzessinnen-Brüsten kommen hier gelegen und sind schnell produziert. Aber nicht nur, dass diese Stories Ihnen nicht bringen und sogar nur schaden, sie verdrängen zudem noch Inhalte von wirklich spannenden Leuten (out crowding).
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    Im Social Media-Bereich kommt für mich hinzu, dass die zu kurzen und oft auch zu schlecht formulierten Messages unglaublich viel Spielraum für Interpretation lassen. Ein Smiley kann die Mimik von 200 Gesichtsmuskeln einfach nicht wiedergeben. Es scheint mir, als würde dies die meisten Nachrichtenempfänger aber nicht stören, weil diese dann die Antworten für sich optimal auslegen und damit einen echten Dialog ohnehin umgehen können. In Anbetracht dessen, dass wissenschaftlich erforscht bereits ein Alltagsgespräch im echten Dialog zu mindestens 50% Missverständnissen führt, ist es völlig absurd zu glauben, dass 140 Zeichen lange Messages so verstanden werden, wie sie der Absender eigentlich gemeint hat.
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  • News sind Gift für Ihren Körper
    Und dies auf mindestens zwei Wegen: Erstens, weil schockierende Nachrichten den menschlichen Organismus stets in Stress versetzen. Und zweitens, weil unsere Gedanken unser Denken prägen. Die Hirnforschung weiss heute besser als früher, dass unsere Hirne sich bis zum Ableben weiterentwickeln. Stellen Sie sich Ihr Hirn als weisses Schneefeld vor. Immer dann, wenn Sie einen Gedanken haben, stapfen Sie eine Spur durch den Schnee. Je öfter Sie eine Spur gegangen sind, desto markanter ist diese in die Landschaft geformt. Es wird dann schwieriger, eine vorgefertigte Spur zu verlassen.
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    Im Social Media-Bereich ist dies ansatzweise bereits erforscht: Die permanente Vormachen der heilen Welt durch die Publikation von ausschliesslich coolen Events und lachenden Gesichtern schlägt den Konsumenten gegenseitig massiv aufs Gemüt. Es wird dadurch ein Gefühl generiert, am richtigen Leben nicht wirklich teilnehmen zu können. Es fällt einem schwer, sich dann vorzustellen, dass alle die anderen, die mitten im Leben stehen, auch ab und zu in ausgelatschten Klamotten nasenbohrend auf dem Sofa sitzen, weil’s davon einfach keine Bilder gibt. Dazu kommt im Übrigen, dass der Wettbewerb der coolen Fotos dazu führt, dass man nicht einmal mehr ein Erlebnis einfach nur erleben kann. Jede Situation wird auf Verwertbarkeit in facebook geprüft und die Kamera in allen erdenklichen Lagen getestet. Auf diese Weise ist es unmöglich, in dem Moment gerade dort zu sein, wo man ist.
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  • News verstärken systematisch Denkfehler
    Immer dann, wenn Inhalte zwecks der Generierung von mehr Aufmerksamkeit gekürzt werden müssen, entfällt Information. Die Welt ist hochkomplex und es gibt keine simplen Zusammenhänge, dass wenn X passiert ist liegt es an Y und Z. Es ist nicht zu beweisen, dass es an Y und Z liegt und wenn dem sogar so wäre, gibt es noch eine Vielzahl an anderen Faktoren, die genau so wichtig waren wie Y und Z.
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    Im Social Media-Bereich brüsten sich die Experten auch mit Kurzformeln, mit welchen Massnahmen welche Erfolge herbeigeführt werden können. Es bleibt aber auch hier Fakt, dass am Schluss nur guter, neuer Inhalt relevant ist, der möglicherweise in Dienstleistungen oder Produkte fliesst, und der immer anstrengende, kognitive Leistung voraussetzt.
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  • News hemmen das Denken
    Ablenkung ist Gift für das Führen klarer Gedanken. Die Ablenkung findet sich heute überall: Durch News, Social Media Input, die permanente Verfügbarkeit der Devices und viele mehr. Während man früher noch am Bahnhof stand und seinen Gedanken nachhing – eine der Voraussetzungen für Kreativität – zückt man heute sein Smartphone aus der Tasche. Ohne Leere entsteht keine Kreativität.
    Dobelli geht vorallem darauf ein, dass gestörte Konzentration aktiv das Verstehen schwächt.
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    Im Social Media-Bereich gibt es Untersuchungen, wie sehr die Produktivität am Arbeitsplatz eingeschränkt wird, wenn E-Mails und News-Meldungen immer direkt bei Eingang gelesen werden. Es ist zwingend zu empfehlen, dass man sich fixe Zeiten für das Bearbeiten dieser Inhalte – inkl. der Mailbox – setzt, damit die Produktivität nicht in Mitleidenschaft gezogen wird.
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  • News verändern die Struktur Ihres Gehirns
    Das habe ich beim Punkt zum Gift im Körper bereits ausgeführt.
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  • News sind Zeitverschwendung
    Dobelli zeigt mit einer anregenden Rechnung, dass auch das Pseudo-Mitgefühl mit Katastrophen mehr Schaden verursacht, als dass es etwas nützt.
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    In punkto Pseudo-Mitgefühl: Da las ich gerade vor kurzem einen facebook-Dialog mit. Ein Mami schreibt, dass es wieder im Spital sei – schon wieder. Die Reaktionen scheinen Empathie-gefüllt: „Schon wieder? Gute Besserung!“, „Oje, gute Besserung euch allen!“, etc., bis ca. zu Kommentar Nr. 8, bei dem dann endlich gefragt wurde, warum die Familie oder wer auch immer ins Spital musste. In einem persönlichen Gespräch kann so etwas nicht passieren.
    Gleichermassen – ich hatte das an einem 27. März bereits kommuniziert – gehen mit die Geburtstagsgrüsse per facebook & Co. auf den Sack, da diese überhaupt nichts mehr mit Drandenken oder persönlichem Austausch zu tun haben.
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  • News unterhöhlen die Beziehung zwischen Ruhm und Leistung
    Spätestens seit der Einführung des Begriffs der It-Girls ist jedem klar, dass Ruhm vollkommen von der Leistung entkoppelt wurde. Dobelli deckt diesen Umstand auf und zeigt, wie bedeutungslos Beiträge über solche Personen für unsere Leben sind. Er kritisiert dabei nicht den Umstand an und für sich, sondern mehr die damit einhergehende Verdrängung jener in den Medien, die wirklich etwas geleistet haben.
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    Auch dieser Punkt findet im Social Media-Bereich eins zu eins Anwendung. Algorithmische Bewertungssysteme wie Klout können den Inhalt nicht wirklich bewerten und verlassen sich auf reine Arithemtik, die wiederum nichts mit Relevanz zu tun hat. Es ist daher unsinnig zu meinen, dass statistisch hergeleitete Influencer zwingend echte Leistung vorweisen können.
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  • News werden von Journalisten gemacht
    Man muss sich vor Augen führen, wie viel in Redaktionen kopiert und selbst gesurft wird, und wie wenig investigativ recherchiert wird und wie selten Ergebnisse überprüft werden.
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  • Berichtete Tatsachen sind manchmal, Prognosen immer falsch
    News werden je nach Impact durch Experten weiter rezykliert und verwertet. Prognosen bewahrheiten sich dabei aber nie und auch diese Form der News-Veredelung bringt Ihnen keinen Nutzen.
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    Das haben Sie bestimmt schon erlebt: Es wird etwas scheinbar Sinniges gepostet, wie beispielsweise, dass man sich mit einem juristisch tönenden Beitrag von den facebook-Bestimmungen distanzieren könne, und schwupps, ist die Meldung wie ein Lauffeuer auf allen Profilen zu finden. Auch im Social Media-Bereich gibt es nur wenige, die sich die Zeit nehmen, Facts zu überprüfen. Damit wird die Zeitverschwendung nochmals gesteigert.
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  • News manipulieren
    Die gut platzierten News über menschliche Schicksale die mit wenigen Worten und Bildern unser Nervensystem in Wallungen versetzen, verleihen einer Sache keine Objektivität und werden durch die Urheber teilweise aktiv manipuliert. Ein spannendes Beispiel aus dem Golfkrieg führt Dobelli in diesem Kapitel an.
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  • News machen uns passiv
    Nach dem Konzept der learned helplessness werden wir immer mehr zu Beobachtern, die ihre Lebenszeit aufs Zuschauen verwenden, anstelle ihre Leben selbst kreativ zu gestalten. Dobelli stellt dabei sogar die These auf, dass die starke Zunahme von Depressionskrankheiten zeitlich mit dieser Art des Newskonsums zusammenfällt und womöglich korrelieren könnte.
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    Im Social Media-Bereich scheint mir eine gute Filterung der Inhalte elementar zu sein. Sie mögen den Kollegen XY im echten Leben gern haben. Wenn dieser aber mehrheitlich Belangloses postet, so ist er im Feed entsprechend zu blockieren. Es lohnt sich.
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  • News töten die Kreativität
    Dobelli führt hier an, dass er kaum kreative Köpfe kenne, die ihrerseits dem News-Konsum fröhnen würden. Er bringt aber zudem die Konzentration ins Spiel, welche für Kreativität massgebend ist. Ich füge nochmals das Stichwort der Leere ein, gedankliche Leere, welches die Grundlage für neue Denkleistung ist.
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    Es scheint mir auch, dass Leute, die permanent Mini-Statements ausstossen, kaum Zeit für echte Gedanken finden, die Mehrwert bedeuten könnten. Bevor ich einem Twitter-Account folge, sehe ich mir immer auch die Tweet-Kadenz an. Mehrere Tweets pro Tag sind dabei für mich stets ein Nogo. Nicht, dass ich alle Tweets auch Derjenigen lesen würde, welche meine Kriterien erfüllen, doch wenn ich dann mal wieder in meinen Feed reinschaue, kann ich wenigstens davon ausgehen, dass mehr Relevantes zu finden ist, als es im Feed hätte, wenn ich all den anderen auch noch folgen würde.
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  • News geben uns die Illusion von Mitgefühl
    Während wir meinen, dass wir auf diese Weise der Passiv-Teilnahme als Weltbürger verbunden seien, vernachlässigen wir wohl gleichzeitig noch die Liebsten um uns herum und unser soziales Netz, das im Alltag wirklich und als einziges zählt. Grund genug, hier nochmals intensiv darüber nachzudenken.Im Social Media-Bereich ersetzen ein paar tröstende Posts kein persönliches Gespräch. Mal ganz abgesehen davon, dass die Absender auch nicht schreiben, wie elend es ihnen grad wirklich geht.

News Apps löschen: checked.

Dobelli gibt dann auch noch Empfehlungen, was wir statt dem News-Konsum tun könnten. Da ich selbst immer bereit bin, meine Positionen zu überdenken und zu verändern, habe ich meine News Apps gelöscht und schränke meine Social Media Feeds enorm ein. Die Zugriffszeiten sind wohlüberlegt und ich bin gespannt, wo ich in einem Jahr stehe – in der Zeit also, die Dobelli als realistisch erachtet, sein Verhalten nachhaltig ändern zu können.

Letztes Jahr um ca. die gleiche Zeit setzte ich mich mit der modernen Massentierhaltung und dem Fleischkonsum auseinander. Seit nun einem Jahr bin ich überzeugter – nicht missionierender – Vegetarier und bereit, weitere Abenteuer anzupacken!

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Vergessen Sie die News! (PDF, 6.2MB)

By Philipp SprecherPhilipp Sprecher on FacebookPhilipp Sprecher on Google+Philipp Sprecher on Twitter Visit author's website

CEO @insigngmbh. Ich habe Freude an meiner Familie, meiner Unternehmung, daran, Dinge zu gestalten und ich liebe spannende Biografien und Menschen.

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